Leseprobe aus „Der Blutschwur“, Band 3 der Wandelblut-Reihe
Kapitel 1: Lügen
Mitja, Gegenwart
Es gibt Momente im Leben, die so unwirklich erscheinen, dass man glaubt, sich in einem Traum zu befinden. Mitja war es so gegangen, als er zum ersten Mal die bunten Himmelslichter des Nordens gesehen hatte, die die Sempka Nishkas Haut nannten.
„Nishka fliegt heute Nacht wieder“, hatte Reda, die Stammesälteste, damals zu den Kindern gesagt und zu den verwaschenen Lichtschlieren hinaufgezeigt, die sich still über den Nachthimmel fächerten und schließlich verblassten. Wie ein Wunder waren sie Mitja vorgekommen. Sie hatten ihm Hoffnung gegeben.
Aber manchmal nahmen diese unwirklichen Momente eine Wendung, die das Leben in einen Albtraum verwandelte. Auch das hatte Mitja bereits erlebt. Deshalb hasste er es, wenn ihm die Kontrolle entglitt. Bisweilen wendeten sich Wunder gegen ihre Bewunderer, und nichts war schlimmer, als Glück zu erwarten, nur um sich dann in einem Desaster wiederzufinden.
Und genau so kam es Mitja jetzt gerade vor. Das Glück hatte sich umgekehrt. Eben noch hatte er in Neris Armen am Flussufer gelegen, von einem anderen Leben geträumt und darüber nachgesonnen, wie er ihr die Wahrheit beibringen würde. Wie es wäre, wenn sie ihm seine Schuld am Tod ihrer Eltern verzeihen könnte.
Doch dazu würde es wohl nicht kommen. Denn fünfzig Schritte von Mitja entfernt stand Nikolaj, der Fürst von Aheelia. Die Spitze seines Asrenschwertes zeigte geradewegs auf Neri. Sie saß vor ihm auf dem Sand des Flussstrandes. Ihr langes, schimmerndes Haar fächerte sich wie ein durchscheinender Schleier um ihren nackten Oberkörper auf. Sie duckte sich mit gespanntem Körper, als wollte sie jeden Augenblick losschnellen.
„Denk nicht einmal daran!“, warnte Nikolaj sie. Und die vier anderen Krieger, die Neri umringten, hoben ihre Waffen.
Aber der Fürst hatte den Satz kaum beendet, da schoss Neri schon auf die Lücke zwischen Nikolaj und dem Krieger Jaros zu. Wanja, der hinter Neri gestanden hatte, haschte mit beiden Armen nach ihr, doch sie glitt ihm durch die Finger. Jaros griff ebenfalls ins Leere. Neri stob zwischen den Bewaffneten hindurch und wäre entkommen, wenn Nikolaj sie nicht an der Schulter gefasst und grob zurückgestoßen hätte.
Sie taumelte, im Fall erwischte Nikolaj ihren Unterarm und zerrte sie zu sich heran. Ihre Haut schillerte dabei, bis sie im Sonnenlicht so hell strahlte, dass Mitja davon geblendet wurde. Das Nächste, was er sah, war, wie Nikolaj sich den Umhang von den Schultern riss und ihn über Neri warf.
Ihr Licht erstarb darunter. Und sie … sie war verschwunden. Einfach weg!
Nicht nur weil sie unter dem Umhang nicht mehr zu sehen war, sondern sie befand sich wirklich nicht mehr dort! Zumindest nicht in menschlicher Gestalt. Denn das Kleidungsstück lag am Boden. Nur etwas viel Kleineres wand sich hektisch darunter und schlug unter dem schweren Stoff um sich. Nikolaj schlang den Mantel fest um das zappelnde Wesen, sodass es sich nicht mehr befreien konnte, und hob es hoch.
Jaros, Ezra und der vierte Krieger Irkin erbleichten. „Wo ist sie hin?“, fragte Letzterer. „Was, bei allen Göttern, ist passiert?“ Die drei wichen zurück. Sogar Wanjas herablassende Miene fiel in sich zusammen. Doch Nikolaj grinste atemlos. Das in den Mantel geschlungene Wesen hielt er vor sich in den Händen.
Da hob Wanja plötzlich den Blick, und seine Augen trafen die Mitjas. „He! Da drüben steht Mitja!“, rief er den anderen zu und deutete auf ihn.
Nikolajs Kopf schoss herum. „Holt ihn euch!“, knurrte er. „Schnell! Bevor er abhaut!“
Jaros, Irkin, Wanja und Ezra sprinteten los.
Mitja dagegen regte sich nicht. Wie festgewachsen stand er da. Neri hatte sich gerade verwandelt. Und wenn Nikolaj das weiße Hermelin erblickte, das sich in dem Mantel befinden musste – dasselbe Hermelin, das sich vor einigen Tagen unter Avas Bett versteckt hatte –, dann würde er sofort daraus folgern, dass Mitja ihn belogen hatte. Nikolaj würde begreifen, dass Neri sich die ganze Zeit auf Avas Hof verborgen gehalten hatte und dass Mitja davon gewusst haben musste. Das durfte nicht geschehen!
Aber mehr als einen zögerlichen Schritt rückwärts brachte er nicht zustande.
Jaros erreichte ihn als Erster und rammte ihn so heftig, dass es Mitja fast von den Füßen riss. Gleich darauf war Wanja neben ihm, packte seinen rechten Arm und verdrehte ihn ihm auf dem Rücken.
Mitja stöhnte vor Schmerz und ging in die Knie. „Nicht so grob!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich laufe nicht weg! Lasst mich los, verflucht! Ich werde nicht fliehen!“
Natürlich ließen sie ihn nicht los. Wanja zog ihn auf die Füße und bugsierte ihn vor sich her auf Nikolaj zu. „Hast dir ganz schön was eingebrockt“, zischte er ihm dabei ins Ohr.
Nikolaj musterte Mitja mit glühendem Blick. Und der wurde sich bewusst, wie er mit dem von seinem morgendlichen Bad im Fluss feuchten Haar und dem von der Totenfeier blutbefleckten Hemd auf seinen älteren Cousin wirken musste. Avas Bestattung, die durchwachte Nacht und seine furchtbare Vision von Neri als geflügelter Bestie waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Dennoch bemühte sich Mitja um eine beherrschte Miene.
„Grundgütiger!“, sagte Nikolaj in einem Tonfall, der klang, als hätte er am liebsten losgebrüllt. „Hattest du ernsthaft vor, in diesem Aufzug abzuhauen?“ Sein abfälliger Blick wanderte über Mitjas besudeltes, halb offen stehendes Hemd und die Kratz- und Bissspuren auf seinem Oberkörper und Hals.
Was immer Mitja jetzt von sich gab, es musste Nikolaj davon überzeugen, dass Neri nichts damit zu tun hatte! Nur so könnte er seine Freiheit bewahren. Und nur so würde er in der Lage sein, Neri zu helfen. Er befeuchtete sich die Lippen. „Glaubst du wirklich, ich würde hier stehen und mich einfach einfangen lassen, wenn ich vorgehabt hätte, zum König überzulaufen?“, fragte er.
Nikolajs Augen verengten sich. „Ich habe dich gewarnt. Du wusstest, was passieren wird, wenn du mir noch einmal Grund zum Zweifel an dir gibst. Wir haben Wagenspuren gefunden, die von deinem Hof wegführten. Du warst nicht da. Ava ist ebenfalls fort. Das Pferd fehlt, und in deinem Haus herrscht Chaos. Da lag die Erklärung doch nahe, dass du dich hastig aus dem Staub machen wolltest. Und wenn du schon dabei bist, dich herauszureden, dann kannst du mir auch gleich erklären, was du und die Wandlerin hier draußen tut, so ganz allein.“ Mit der Schwertspitze schob er Mitjas Hemdkragen weiter auseinander, sodass die Bissmale in seiner Halsbeuge vollständig entblößt lagen. „Ist schon merkwürdig, dass ich euch beide hier am Fluss finde, denkst du nicht?“ Jeglicher Spott war aus seiner Stimme verschwunden.
„Ich habe keine Ahnung, was sie … was diese … diese Kreatur hier tut“, brachte Mitja heraus, und sein Blick zuckte zu dem Stoffbündel unter Nikolajs linkem Arm.
Der Fürst lächelte eisig. „Ach nein? Dann wollen wir doch mal sehen, was ich hier eingefangen habe. Ich habe da nämlich so eine Ahnung, dass ich ihm schon einmal begegnet bin, diesem Herme–“ Er verstummte mitten im Wort, denn während er den Stoff seines Mantels zurückschob, sodass das darin gefangene Wesen wieder zu zappeln begann, kam statt eines Hermelins ein flatternder Flügel zum Vorschein. Ein Flügel mit weißen Federn.
Mitja klappte der Mund auf. Und auch Nikolaj war sichtlich überrascht. Er schob den Stoff noch etwas weiter zur Seite, und der Kopf einer Eule erschien. Der Vogel hatte dunkle Melierungen auf dem Rücken und auf der Oberseite der Flügel. Der Kopf war schneeweiß, der Schnabel schwarz, und die Augen schimmerten in einem auffälligen Goldton.
„Ich habe diese Eule noch nie gesehen!“, sagte Mitja fest. Und es war nicht mal gelogen. „Was soll das Ganze hier? Warum lässt du mich gefangen nehmen?“
Nikolaj starrte die Eule an, dann wandte er sich wieder Mitja zu. „Und das da?“ Er wies auf die Bissmale an Mitjas Hals. „Wie ist das geschehen, hä?“
Mitja schüttelte in einer hilflosen Geste den Kopf und lachte nervös. „Sieht das etwa aus, als stammte es von einem Menschen? Oder von einer Eule? Das war … Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht einmal, was es war. Aber sie“, er zeigte auf den Vogel, „sie war es auf jeden Fall nicht.“ Noch einmal lachte er. Und es klang hart und abgehackt in seinen Ohren.
„Das ist wohl die dümmste Ausrede, die mir je untergekommen ist!“, zischte Nikolaj und drückte die Eule mitsamt dem Mantel in Jaros’ Hände. Der nahm das Bündel entgegen, als könnte er sich daran die Finger verbrennen. Der Fürst hob sein Schwert und richtete die Spitze erneut auf Mitja. „Willst du mich etwa für dumm verkaufen, Cousin?“ Das letzte Wort betonte er sarkastisch.
Mitja blieb das Lachen im Halse stecken, als er das kalte Metall an seinem Kehlkopf spürte. Er sah sich bereits gefangen in dem Felsloch-Gefängnis oben auf der Burg, mit Ketten an seinen Hand- und Fußgelenken. Die Erinnerung an die Kälte der Sträflingsbaracken in der winterlichen Tundra ließ ihn schaudern. Barbaras, der Oberaufseher, würde ihn sicher nicht noch einmal lebend aus dem Steinbruch kriechen lassen.
Doch das Schlimmste war, dass er diesmal nicht nur sich selbst, sondern auch Neri mit ins Verderben zog. Sie war genauso gefangen wie er. Aber sie trug keinerlei Schuld. Sie kannte die Welt der sieben Fürstentümer nicht so wie er, und sie konnte sich nicht wehren. Die Tatsache, dass Nikolaj sie in seiner Gewalt hatte und mit ihr anstellen würde, wonach immer ihm beliebte, dieser Gedanke war Mitja unerträglich. Und doch konnte er rein gar nichts dagegen unternehmen.
Er presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Bei den Göttern, er hatte versagt! Es geschah schon wieder, er war dabei, die Kontrolle über sein Leben und seine Freiheit zu verlieren. Panik breitete sich heiß in seinem Bauch aus. Er suchte nach Worten, nach Erklärungen, nach irgendetwas, das ihm und Neri den Hals retten könnte.
„Ich hab sie gefunden, Mitja!“, schallte da eine Stimme zu ihnen herüber. Alexej kam am anderen Ende des Flussstrandes in Sicht. Er führte Mitjas Stute Rotschopf am Halfter und winkte. Seine Schwester Alina spazierte neben ihm, und seine Fröhlichkeit schien völlig fehl am Platze – zumindest in Mitjas Augen. „Deine Stute hat da drüben bei den Grabhügeln gegrast“, fuhr er fort, und während er näher kam, spielte das Pferd an seiner Seite nervös mit den Ohren.
Nikolaj wandte sich ihm zu, seine Schwertspitze noch immer an Mitjas Kehle. „Was hast du damit zu tun, Alexej?“
Der schaute verwirrt drein. „Ich? Na, du hast mir doch den Auftrag gegeben, auf dem Hof zu warten, und aufzupassen, ob Mitja zurückkommt. Tja, und er ist zurückgekommen. Er sagte mir, sein Pferd sei ihm nach der Bestattung ausgekommen, und er würde schon den ganzen Morgen danach suchen. Da hab ich ihm natürlich bei der Suche geholfen. Du weißt ja, mit Pferden kenne ich mich aus.“ Stolz hob er das Kinn.
Nikolaj ließ das Schwert an Mitjas Kehle sinken. „Von was für einer Bestattung sprichst du denn da?“
Alexej blickte ratlos zwischen Mitja und dem Fürsten hin und her. „Na, ich dachte … Mitja, hast du es ihm etwa nicht erzählt?“
„Was erzählt?“, fragte Nikolaj fahrig. „Nun red schon!“
„Ava ist gestorben“, presste Mitja heraus. „Gestern früh. Heute Nacht habe ich ihr die letzte Ehre erwiesen.“ Er schaute zu Boden. „Deshalb sehe ich auch so aus. Der Totentrank, du weißt schon.“
„Ava ist tot?“, fragte Nikolaj überrascht. „Und du hast sie bestattet? Allein?“
„Ja“, bestätigte Mitja. „Allein.“
„Und sie?“ Mit dem Schwert deutete Nikolaj auf das Bündel mit der Eule, das Jaros noch immer vor sich hielt, als könnte es ihm jeden Moment mit Klauen und Zähnen ins Gesicht springen.
Mitja zuckte mit den Schultern. „Ich sagte doch, ich habe keine Ahnung wie sie hierherkommt. Ich war allein. Die ganze Nacht. Zumindest soweit ich mich daran erinnern kann, und … und danach habe ich nach meinem Pferd gesucht. Und so habe ich euch hier gefunden.“ Hilflos hob er die Hände. „Mehr weiß ich nicht.“
„Das kann ich bestätigen!“, mischte Alexej sich eifrig ein. „Kurz nachdem du, Nikolaj, mit den anderen den Wagenspuren nachgegangen bist, kam Mitja nämlich zurück zum Hof gelaufen und hat mir all das genauso berichtet. Er habe Ava heute Nacht bestattet und suche jetzt nach seinem Pferd, hat er gesagt. Und die Stute habe ich gerade bei den Grabhügeln gefunden.“ Er klopfte Rotschopf den Hals.
Mitja räusperte sich. „I-ich versichere dir, Nikolaj, ich habe sie … also dieses … dieses Mädchen, die Eule … hier noch nie gesehen. Ich dachte, sie wäre damals im Fluss ertrunken. Sie muss –“
Unvermittelt schlug Nikolaj Mitja mit dem Heft seines Schwertes ins Gesicht. „Stammle nicht herum! Du behauptest, du hättest Ava heute Nacht bestattet, ja? Und mit dem Mädchen hast du nicht das Geringste zu tun?“
Mitja taumelte und spuckte Blut von seiner aufgeplatzten Lippe in den Sand. Dann hob er den Kopf und erwiderte Nikolajs Blick. „So ist es!“, bestätigte er. „Nicht das Geringste.“
Nikolaj trat so nah zu ihm, dass ihre Nasen sich fast berührten. „Schwörst du mir, dass das die Wahrheit ist?“
„Ja“, log Mitja, während ihm das warme Blut übers Kinn lief. „Ich schwöre es.“ Jedes Wort widerte ihn an. Einen falschen Schwur abzulegen, so weit hatte er es also gebracht.
Nikolaj hielt seinen Blick noch einen Moment, ehe ein kühles Lächeln sein Gesicht verzog. „Na gut.“ Er trat zurück und bedeutete Ezra und Wanja, Mitja loszulassen. „Ich werde dir glauben.“
Mitja atmete auf und wischte sich das Blut vom Mund.
„Ich werde sogar noch mehr für dich tun“, fuhr Nikolaj fort, und ein listiges Schimmern trat in seine Augen. „Du sollst Zeit haben, um Avas Tod zu betrauern. Ich weiß doch, wie viel dir deine Großmutter bedeutet hat.“ Er lächelte. „Aber gib mir besser keinen Grund mehr, an dir zu zweifeln, Cousin.“ Sein Blick wanderte weiter zu Alexej, der noch immer Rotschopf am Halfter festhielt. „Und dir und deiner Schwester übertrage ich die Verantwortung für Mitja. Sorgt dafür, dass er keinen Unsinn anstellt. Kümmert euch um ihn, immerhin ist das ist eine schwere Zeit für ihn. Und vor allem: Gebt acht, dass er es sich nicht anders überlegt und doch die Seiten wechselt. Habt ihr verstanden?“
Alexej erbleichte, sein Lächeln erstarb. Und auch Mitja erstarrte.
Auf Nikolajs Miene dagegen breitete sich ein zufriedenes Grinsen aus. „Da ihr beide euch ja so nahesteht, dürfte das doch kein Problem darstellen. Aber ich warne dich, Alexej, sollte Mitja abhauen, oder sollte sich irgendetwas, was er heute gesagt hat, als Lüge herausstellen, dann werde ich nicht nur ihm, sondern auch dir die Schuld daran geben. Und natürlich auch deiner Schwester.“ Er zwinkerte Alina zu, die eingeschüchtert neben ihrem Bruder stand. „Überlegt euch also genau, was ihr tut, ihr drei.“ Er ließ den Blick über sie streichen, dann wandte er sich ab „Gehen wir!“, forderte er seine Krieger auf. Wanja, Ezra, Jaros und Irkin setzen sich in Richtung der Pferde in Bewegung.
„Ach ja!“ Nikolaj blieb noch einmal stehen. „Und mein Beileid natürlich für deinen Verlust, Mitja. Ava wird uns allen fehlen.“ Sein Tonfall strafte diese Worte Lügen.
Mitja verbiss sich eine Antwort und unterdrückte den heißen Zorn, der in ihm aufstieg. Er sah zu, wie Nikolaj auf den Wald zuging. Ezra, Irkin und Jaros, der die im Mantel gefangene Eule trug, folgten ihm.
Wanja dagegen zögerte noch. Er sah Mitja und Alexej mit einem mitfühlenden Lächeln an. „Nehmt’s nicht so schwer!“, sagte er. „Das wird schon wieder. Wenn ihr wollt, komme ich später vorbei und sorge für ein wenig Ablenkung?“, schlug er mit einem schelmischen Ausdruck vor – als hätte Nikolaj Mitja nicht soeben mit dem Tod bedroht.
Wanjas Kur für so ziemlich alle Leiden bestand grundsätzlich aus Trinken und Frauen. Und nach beidem stand Mitja gerade gar nicht der Sinn. „Danke, nein“, gab er harsch zurück. Und dabei sah er Wanja nicht einmal an. Stattdessen folgte Mitjas Blick Jaros. Denn der trug Neri zu den Pferden, die zwischen den Bäumen warteten.
Wanja zuckte mit den Schultern. „Na gut. Dann … dann sagt Bescheid, wenn ihr eure Meinung ändert. Wir sehen uns!“ Er wandte sich ab und folgte den anderen.
Neris Federn, die wenigen, die aus dem Mantelbündel herausschauten, schimmerten in der Mittagssonne, als wären sie mit Eiskristallen bestäubt. Und die Tatsache, dass sie sich jetzt in Nikolajs Gewalt befand, ließ Mitja die Fäuste ballen. Er hätte alles dafür gegeben, um ihr diese Situation zu ersparen. Aber er war, verdammt noch mal, zu spät gekommen! Er hatte Neri nicht schützen können. Ohne es zu bemerken, machte er einen Schritt, als wollte er ihr folgen.
„Wehe, du rührst dich!“, flüsterte Alexej und packte ihn am Arm, die Augen ebenfalls nach vorn auf die Bewaffneten und die Pferde gerichtet.
Und so standen sie, Seite an Seite, und sahen zu, wie Jaros’ Pferd einen Satz machte, weg von dem Bündel, das er im Arm hielt. Der Krieger griff in die Zügel und wollte seinen Wallach beruhigen. Doch das Tier rollte mit den Augen, stieg hoch und wich zugleich immer wieder zurück. Auch die anderen Pferde gerieten in Aufruhr. Sie fürchteten sich vor dem Bündel, begriff Mitja. Vor dem Wandelblut. Die Krieger fluchten.
Nur auf Nikolajs Lippen lag ein wissendes Lächeln. „Hört auf!“, befahl er, und es klang amüsiert. „Das hat keinen Zweck. Die Pferde wissen, was wir da eingefangen haben. Wir werden uns den Wagen ausleihen, der drüben bei den Hügeln steht. Du hast doch nichts dagegen, Mitja?“
Der schüttelte stumm den Kopf. Selbst wenn er genickt hätte, wäre das vermutlich egal gewesen. Nikolaj hätte die kleine Lastenkutsche, mit der Mitja gestern Ava und das Totenmahl zu den Grabhügeln gefahren hatte, dennoch genommen. Mit tänzelnden Pferden verließen der Fürst und seine Bewaffneten den Flussstrand.
Mitja, Alexej und Alina blieben schweigend zurück.